Ende des 19. Jahrhunderts traf Auguste Rodin eine radikale Entscheidung: er erklärte den Torso zum eigenständigen Kunstwerk. Unsere Statue „Die innere Stimme“, der die Arme fehlen und die Beine massiv beschnitten sind, hielt er sogar für seine beste Arbeit. Der jungen Frau wirkt vollkommen in sich gekehrt und sehr verletzlich in ihrer Nacktheit und Versehrtheit.
Bei der „Heroischen Büste“, einem Porträt des Victor Hugo, konzentriert sich alle Aufmerksamkeit auf den nachdenklich geneigten Kopf des Dichters. Beide – der weibliche Torso und die Büste – sind zweifelsohne ausdrucksstarke Skulpturen. Entworfen aber hatte sie Auguste Rodin einst als Teile eines Denkmals. Kuratorin Astrid Nielsen:
„1889 hatte Rodin in Frankreich von der Société des gens de lettres, einem Zusammenschluss von Literaturschaffenden, den Auftrag erhalten, ein Denkmal für Victor Hugo, den großen französischen Dramatiker, Schriftsteller, Romancier und Lyriker zu entwerfen. Rodin schuf verschiedene Entwürfe und auch Modelle dazu, er zeigte einen sitzenden Victor Hugo, einen anderen, einen fast liegenden Victor Hugo, nur mit einem antiken Mantel bekleidet und umgeben von einer Muse, einer tragischen Muse als Sinnbild für die dramatische Dichtkunst Victor Hugos und umgeben von einer stehenden Figur, die den Titel trug ‚la méditation‘, die Meditation oder auch ‚Die innere Stimme‘, was sich wiederum auf einen Gedichtzyklus von Hugo bezog ‚Les voix intérieures‘, ‚Die inneren Stimmen‘.
Das Denkmal wurde schließlich ohne die Assistenzfiguren realisiert. Aber Teile des Entwurfs führte Rodin in größerem Format als Einzelwerke aus. Beim Porträt des Dichters ließ er die stützende Hand weg. Die „Innere Stimme“ ließ er ganz bewusst so angeschnitten, wie sie ursprünglich in das Denkmal eingepasst war. Aber der erzählerische Zusammenhang spielte nun keine Rolle mehr.
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Die Moderne in der Skulptur beginnt Ende des 19. Jahrhunderts mit Auguste Rodin, sagt Kuratorin Astrid Nielsen:
„Also für ihn war ein Fragment tatsächlich ein vollständiges Werk. (…) Das wäre in der Renaissance undenkbar gewesen, einen nicht kompletten Menschen darzustellen. Und auch während des Barock war das eigentlich undenkbar. So war es auch eine Hauptbeschäftigung oder Haupteinnahmequelle barocker Bildhauer gerade in Rom, Antiken zu ergänzen und zu vervollständigen. Rodin selbst besaß eine große Antikensammlung, die sich auch heute noch im Musée Rodin befindet, das heißt, er selbst kannte antike Fragmente aus der eigenen Sammlung, aus der eigener Anschauung. Das war ihm Inspiration genug, so radikal vorzugehen und seine Figuren in unterschiedlichster Art und Weise den Gesamtzusammenhängen, anderen Entwürfen zu entnehmen, sie zu fragmentieren und als komplette Kunstwerke auszustellen.“
Bei Georg Treu, dem damaligen Direktor der Dresdner Skulpturensammlung, stieß diese Haltung auf großes Interesse. Schon 1897, direkt nach der Internationalen Kunstausstellung in Dresden, erwarb er die „Innere Stimme“ als Gipsfigur direkt beim Künstler. Bei vielen Besuchern aber stieß der Torso auf Unverständnis und Ablehnung. Und in der Presse warf man Rodin sogar vor, verrückt zu sein.
Die Geschichte der „Innere Stimme“ geht übrigens noch weiter zurück. Ursprünglich hatte Rodin die Figur für sein berühmtes „Höllentor“ entworfen. Dieses Portal, auf dem er sich mit Dantes „Göttlicher Komödie“ auseinandersetzte, war für einen Museumsneubau in Paris gedacht, der nie realisiert wurde. Das Tor beschäftigte Rodin Zeit seines Lebens, wurde aber nie vollendet. Aber er nutzte es als großen Fundus, aus dem er immer wieder Figuren entnahm und sie ein Eigenleben führen ließ. Auch der berühmte „Denker“ stammt übrigens aus diesem Repertoire.
- Material & Technik
- Gips, Stückform
- Museum
- Skulpturensammlung
- Datierung
- 1896 (Erste Fassung)
- Inventarnummer
- ASN 4815