Ein Absperrgitter mit Höckerchen, Sitzpolstern und Lesepulten? Klingt skurril, trifft es aber ziemlich genau. Die Skulptur von Slavs and Tatars, einem Künstlerkollektiv aus Berlin, ist unübersehbar inspiriert von den so genannten Hamburger Gittern, die bei großen Veranstaltungen im Freien aufgestellt werden, um die Menschenmassen zu bändigen. Mit dem Titel „Dresdener Gitter“ spielen Slavs and Tatars auf ganz konkrete Ereignisse der vergangenen Jahre an: die Proteste rechtsnationaler Kreise, die die Dresdner Gesellschaft tief gespaltet haben.
Aber das ist nur die eine Lesart. Das 2006 gegründete Kollektiv löst Themen fast immer aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen und setzt sie in neue: oft völlig ungeniert, ironisch gebrochen und unterhaltsam zwischen Hochkultur und Pop. So wird aus einem Absperrgitter ein museales Kunstwerk, das zum Sitzen, Lesen und zum Austausch einlädt. Die Buchstützen erinnern an Lesepulte für die heiligen Bücher in Kirchen, Synagogen und Moscheen – und erinnern damit auch an eine Zeit vor dem Buchdruck, als das Lesen nur einigen wenigen Gebildeten vorbehalten war und Bücher als fast heilig galten.
Slavs and Tatars waren ursprünglich eine Lektüregruppe, was ihr großes Interesse an Literatur und Sprache erklärt. Die Mitglieder des Kollektivs verstehen ihre Arbeit als „Archäologie des Alltags“. Sie forschen über Traditionen, Religionen und Identitäten und greifen aktuelle Debatten auf. Ihr Blick richtet sich dabei ausschließlich auf den Kulturraum Eurasien – ein Gebiet, das Slavs and Tatars zwischen der Chinesischen Mauer im Osten und der bis 1989 existierenden Berliner Mauer im Westen verorten.
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Payam Sharifi, Mitglied bei Slavs und Tatars, über ihren Fokus auf den Kulturraum Eurasien.
„Wir interessieren uns für diese Region besonders, weil sie sich irgendwie dem Zugriff entzieht, wie man gemeinhin über geographische Regionen denkt. Sie ist zu großen Teilen von Muslimen bewohnt und sie ist zu weiten Teilen russischsprachig, obwohl hier aus kolonialen Gründen kein Russen wohnen. Sie liegt in Asien, aber ist nicht unter chinesischer Herrschaft. Es ist so etwas wie eine Pufferregion, liegt sozusagen zwischen dem früheren russischen Reich beziehungsweise der sowjetischen Einflusssphäre, dem Persischen und dem Osmanischen Reich und der muslimischen Welt.“
Mit dem „Dresdener Gitter“ wollte das Kollektiv ganz bewusst die Frage nach der Kontrolle von Menschenansammlungen aufgreifen, sagt Payam Sharifi. Und:
„…es als Metapher benutzen für die Alphabetisierung, die gleichbedeutend mit Wissen und der Fähigkeit zum Lesen ist. Diese Fähigkeit wurde jahrhundertelang vom religiösen Establishment und den politischen Eliten überwacht, bevor es möglich war, sie zu demokratisieren…
Wir sind an dem Akt des Lesens als einem kollektiven Akt interessiert. Lesen war die ganze Geschichte hindurch eine kollektive Erfahrung und erst seit etwa 150, vielleicht 200 Jahren, ist es eine individuelle und private Angelegenheit. Bis zum 19. Jahrhundert war Lesen ein öffentlicher und mündlicher Akt im Sinne eines Vortrags von Leuten für andere Leute. Und wir versuchen, einen erneuten Anspruch auf dieses Verständnis von Lesen geltend zu machen.
Wenn man von Kollektiven oder Zusammenkünften spricht, muss man auch von Populismus sprechen, in dem Sinn, dass sich die Strukturen des Gesellschaftsvertrages zwischen Staat und Öffentlichkeit beziehungsweise ihren Vertretern auflösen. Unser Gitter bezieht sich auf die Bedeutung, die das Lesen im Sinne einer zivilisierenden Kraft haben kann.
Wenn wir als Gesellschaft gemeinsam bestimmte Dinge lesen – also quasi wie einen Kanon oder eine Wissensbasis – dann ist es viel wahrscheinlicher, dass wir als eine gesunde Gesellschaft funktionieren können. Durch die Social-Media-Angebote heutzutage und die Fragmentierung der Medienlandschaft im Allgemeinen ist es sehr viel schwieriger geworden, eine gemeinsame Wissensgrundlage zu schaffen.“
Original:
We’re interested in this region primarily because it falls through the cracks of people’s geographical understandings. It is largely Muslim, quite largely Russiphon – Russian speaking –, but was not in Russia namely by colonial reasons. And it’s quite a significant place in Asia, but it’s not been under Chinese rule. So, it’s a little bit of a buffer region in sense that it’s between the former Russian Empire, the Soviet sphere, the former Persian Empire, the Ottoman Empire and the Muslim world.
(We deliberately wanted to use this question of control, of controlling crowds also)
as a metaphor for literacy and reading, in a sense that reading and literacy were guarded by the religious establishment and by the political (sort of) elites for several hundred years before they were (sort of) allowed to be democratized.
We are interested in the act of reading as a collective act. Reading for the largest part of its history has been a collective experience. It’s only been 150, maybe 200 years, since that we start to read privately and quietly. Until the 19th century reading was a public and oral performative act. It was something that was done for people together with other people. And we are trying to reclaim this idea of a collective understanding of reading.
Whenever you start talking about collectives in sort of gatherings of course you have adress the issue of populism in sense that seems to be a rotting of the social contract between (let’s say) states and their constituants and the publics. And this “Gitter” refers to the impact that reading can have as a kind of civilizing force.
If we together as a society read the same materials – meaning a kind of a common canon or a common knowledge base – than it is much more likely for us to be functioning as a healthy society. With todays social media and sort of defragmentation of the media landscape in general it is much harder for that common sort of lived knowledge to exist.
- Ort & Datierung
- 2018
- Material & Technik
- Rostfreier Stahl, Kunstleder, Schaumstoff
- Dimenions
- 129 x 211 x 128 cm
- Museum
- Skulpturensammlung
- Inventarnummer
- ZV 4374