„Wie sich Menschen im Gedränge komponieren und in Bahnen bewegen“, „das Gefühl, das über einer Stadt liegt …“,
– so beschrieb Ernst Ludwig Kirchner, was er in seinen Straßenszenen abbilden wollte. Das Treiben verläuft in diagonalen Linien kreuz und quer, vor dem Schaufenster eines Friseurladens, der im Hintergrund hell erleuchtet die neuesten Trends präsentiert.
Solche und andere Szenen aus der Großstadt hinterließen bei Kirchner tiefe Eindrücke, als er 1925/26 auf einer längeren Deutschlandreise wieder große Städte besucht, darunter seine ehemaligen Wohnorte Dresden und Berlin. Acht Jahre zuvor hatte Kirchner sich von dort zurückgezogen, in die Abgeschiedenheit der Schweizer Berge, um zu genesen.
Die Zeit der expressionistischen Künstlergruppe „Die Brücke“, zu deren Gründungsmitgliedern er zählte, lag schon über ein Jahrzehnt zurück. Das Großstadtleben hielt er nun auf besagter Reise permanent in Zeichnungen fest, um die Szenen später im Atelier in Davos auf die Leinwand zu bringen. Kuratorin Birgit Dalbajewa erzählt, was Kirchner im Sinn hatte:
„Er wollte in der Zeit eine Malerei finden, die etwas abgeklärter ist, die in den Tönen anders zueinander steht – auch Picasso hat ihn interessiert –, und er wollte etwas verallgemeinernd malen, um in Farbtönen und in einzelnen Flächen zusammenzuschließen.“
Das Ergebnis kam auch in Dresden gut an, wo das Bild 1926 von der Stadt für die Gemäldegalerie erworben wurde und noch im selben Jahr in der großen Internationalen Kunstausstellung zu sehen war. Sicher war das ein Erfolg, doch Kirchner, der auf seiner Deutschlandreise wieder Anschluss suchte und vergeblich auf eine Professur hoffte, reflektierte:
„Ich suche Heimat und finde sie nicht. Ich bin nur Gast.“
– ein Gedanke, der auch von dem einsamen Mann stammen könnte, der unten rechts aus dem Bild schreitet.
Weitere Medien
1937 fand in München die berüchtigte Ausstellung „Entartete Kunst“ statt, in der die Nationalsozialisten Werke der Avantgarde in übelster Weise verunglimpften, weil sie nicht ihren Vorstellungen von sogenannter „Deutscher Kunst“ entsprachen. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass es schon 1933 erste Feme-Ausstellungen gab, mit Titeln wie „Schreckenskammer“ oder „Kunst, die nicht aus unserer Seele kam“. Eine davon war in Dresden, im Lichthof des Rathauses mit dem Titel „Entartete Kunst“. Dort wurden über 200 als „Verfallskunst“ diffamierte Werke aus öffentlichen Sammlungen gezeigt, mit Angaben der Ankaufspreise, um Empörung über den angeblichen Missbrauch von Steuergeldern zu schüren. Unter den Gemälden war zum Beispiel Ernst Ludwig Kirchners „Straßenbild vor dem Friseursalon“. Adolf Hitler forderte nach dem Besuch der Ausstellung, sie müsse in „recht vielen deutschen Städten gezeigt werden“, was prompt geschah. Sie diente auch als Vorbild für die Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München.
Noch im selben Jahr gab es eine umfangreiche Beschlagnahmungswelle in den Museen. Die Gemäldegalerie verlor damals 54 Bilder, teilweise aus eigenem Bestand, teilweise Leihgaben des Patronatsvereins und der Stadt Dresden.
In der Folge versuchten die Nationalsozialisten, die beschlagnahmten Bilder zu „verwerten“. Manche sollten gegen Devisen ins Ausland verkauft werden. Kirchners „Straßenbild vor dem Friseursalon“ beispielsweise wurde 1937 in der Gemäldegalerie beschlagnahmt und kam in ein Depot bei Berlin, wo die Kunstwerke für die „Verwertung“ lagerten. 1939 erwarb Karl Buchholz das Bild; einer von vier deutschen Kunsthändlern, die für Auslandsverkäufe autorisiert waren. Er brachte Kirchners Bild in seine New Yorker Dependance. Danach wechselte es mehrfach den Besitzer; 2016 konnte es schließlich für das Albertinum erworben werden.
- Ort & Datierung
- 1926
- Material & Technik
- Öl auf Leinwand
- Dimenions
- 119,5 x 100,5 cm
- Museum
- Galerie Neue Meister
- Inventarnummer
- Inv.-Nr. 2016/01