Die junge Dame, die sich in Richtung des Betrachters umblickt, ist Antonia Wallinger (1823-1893), die als Tänzerin am königlichen Hoftheater in München gefeiert wurde. Joseph Stieler porträtierte sie 1840 im Auftrag von König Ludwig I., der sich seit 1827 mit dem Aufbau einer Galerie der Schönheiten nach dem Vorbild aristokratischer Sammlungen in Italien und Frankreich befasste. Die Tatsache, dass diese Galerie im Festsaalbau der Münchner Residenz öffentlich zugänglich war, erklärt die zahlreichen Kopien, die nach Vorlage der Gemälde Stielers angefertigt wurden, darunter auch die vorliegende Miniatur, die einem Verehrer der Tänzerin gehört haben dürfte. Sie stammt von einer nicht näher bekannten Künstlerpersönlichkeit, die sich als „R. Christ.“ ausweist.
Aus dem hochrechteckigen Leinwandgemälde von über 70 Zentimeter Kantenlänge wurde eine deutlich verkleinerte Version auf einem ovalen Träger aus Elfenbein, der mit einer floral ornamentierten Kupferrahmung versehen ist, die wiederum vertiefend in einen Rahmen aus Holz oder Bein eingefasst ist. Ähnliche Kopien entstanden auch für andere der Münchner Schönheiten und tauchen immer wieder auf dem Kunstmarkt auf. Ein Aufkleber auf der Rückseite der Dresdner Kopie verweist auf Eduard Pachtmann, der am Beginn des 20. Jahrhunderts ein Kunst- und Luxuswarengeschäft auf der Prager Straße unterhielt.
Die Entstehung von Stielers Porträt der Antonia Wallinger sowie wahrscheinlich auch der Dresdner Kopie fällt in die Zeit, in der Otto von Wittelsbach, Sohn von Ludwig I., König von Griechenland war. Mit seiner Regentschaft verbindet sich ein verstärktes Interesse an der Kultur der griechischen Antike, das weit über die bayerischen Grenzen hinausreichte. Das leichte, enganliegende Gewand, das mit goldenen Fibeln auf Schulterhöhe zusammengehalten wird, weist eine Mäanderbordüre auf, ein Ornament, das in der griechischen Antike für Jugend und Erneuerung stand. Übereinstimmend kann der goldene Kelch, den die Dargestellte in der linken Hand hält, als Attribut der Hebe gedeutet werden. Als Göttin der Jugend war es Hebes Aufgabe, den Göttern auf dem Olymp Nektar und Ambrosia zu reichen. Falls Wallinger die Rolle der Hebe nicht selbst verkörperte, wurde sie aufgrund ihrer jugendlichen Ausstrahlung womöglich mit der Göttertochter verglichen.
Text: Alexander Röstel