Ähnlich wie der Vitrinenschrank lädt auch dieser Stuhl dazu ein, über die langen Traditionslinien zu reflektieren, die – scheinbar ungebrochen – vom Aufkeimen des Klassizismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Gründung der Deutschen Werkstätten in Hellerau um 1900 führen. Elemente wie die vierkantigen Säbelbeine und die geschwungene Rückenlehne erinnern an Vorläufer aus der Biedermeierzeit, die wiederum klassischen Modellen folgten. Auch der materielle und dekorative Minimalismus scheint sein Fundament im Klassizismus zu haben. Statt edler Hölzer wie beim in Mahagoni gearbeiteten Vitrinenschrank ist hier einfaches Eichenholz zum Einsatz gekommen, das aufgrund seiner Verbreitung eine serielle Produktion ermöglichte. Die klaren Formen betonen die Funktionalität des Objekts. In seiner Reichweite unterscheidet sich der Stuhl von seinen Vorläufern im Biedermeier oder in der Antike: er hat weder zur Ausstattung einer fürstlichen Tafel gehört noch ist er dem Auftrag einer herausragenden Persönlichkeit zu verdanken. Vielmehr ist der De-We-Stuhl eines der am erfolgreichsten seriell und auf Vorrat produzierten Möbel der Deutschen Werkstätten in Hellerau und erreichte somit eine breite Käuferschicht.
Der Entwurf des Stuhls aus dem Jahr 1919 geht auf einen der berühmtesten Vertreter des deutschen Jugendstils zurück, den Münchner Architekten Richard Riemerschmid (1868-1957). Riemerschmid ist eine der Gründungsfiguren der Deutschen Werkstätten und zugleich einer der prägendsten Gestalter, der nicht nur Möbel entwarf. Er konzipierte 1909 im Auftrag des Möbelfabrikanten Karl Schmidt in Hellerau eine Gartenstadt nach dem Vorbild des englischen Städteplaners Ebenezer Howard, die neben Wohnhäusern und Fertigungsstätten auch über Einrichtungen des täglichen Lebens wie Geschäfte, Schulen und Arztpraxen verfügen sollte.
Das vorliegende Exemplar ist auch als Hellerauer Stuhl oder De-We-Stuhl bekannt geworden und war gerade in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg äußerst gefragt. Um Materialkosten zu reduzieren und die Fertigung zu rationalisieren, wurde das Schulterbrett aus schichtverleimten Holz – einer zur Zeit des Entwurfs des Stuhl bahnbrechenden technologischen Neuerung - gefertigt. Ähnlich wie beim Vitrinenschrank trägt die Maserung des Holzes, das nachträglich dunkel gebeizt wurde, sehr zum Gesamteindruck bei.
Text: Alexander Röstel