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Eine Totenfeier

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Orhan Pamuk:
Die Angewohnheit, den Mitgliedern einer Trauergemeinde ein Foto des Toten anzuheften, war in den siebziger Jahren bei den häufigen Trauerfeiern für die Opfer politischer Morde aufgekommen und von der Istanbuler Bourgeoisie rasch übernommen worden.
Das Pamuk Apartmanı in der Teşvikiye-Straße, in dem ich fast mein ganzes Leben verbracht habe, ist genauso wie die Wohnung der Keskins ganz in der Nähe der Teşvikiye-Moschee, in der noch heute für viele reiche Leute die Trauerfeier abgehalten wird. Nicht nur zahlreichen Verwandten von mir ist dort das letzte Geleit gegeben worden, sondern auch der einen oder anderen meiner Romanfiguren. Ich kam dort zum erstenmal auf dem Arm eines Dienstmädchens hinein, das sich im Haus langweilte, und es gefiel mir gleich an diesem Ort, wo genauso Teppiche auslagen wie bei uns daheim und sich Verkäufer, Hausmeister oder Köche aus der Gegend gerne trafen, wenn sie gerade nichts zu tun hatten. Nicht nur für Reiche wurden dort Totenfeiern abgehalten, auch für berühmte Sänger, für Politiker und hohe Militärs, und wenn dann, angeführt von einer Militärkapelle oder einem städtischen Musikzug, die Trauergemeinde hinter dem Sarg her an unserem Haus vorbeidefilierte, sahen wir vom Fenster aus zu.

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