(English translation below)
Oskar Zwintschers hier ausgestelltes Gemälde trägt den Titel „Bildnis einer Dame mit Zigarette". Georg findet diesen Titel irreführend. Könnte hier nicht auch ein junger Mann abgebildet sein?
„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, in welchem Geschlecht du von Anderen gelesen wirst? Oder in welchem Geschlecht du dich selbst wahrnimmst?
Wenn ich das Porträt mit dem Titel ‚Bildnis einer Dame mit Zigarette' von Oskar Zwintscher aus dem Jahre 1904 anschaue, kommen mir genau diese Fragen zu aller erst in den Kopf.
Was siehst du auf dem Bild? Eine junge Dame? Oder vielleicht einen jungen Herren? Bist du vielleicht unsicher und weißt gar nicht so recht, in welche Schublade in deinem Kopf du diese Person gerade stecken oder einordnen sollst?
Wenn ich dir jetzt verrate, dass sogar der Titel des Porträts nicht vom Künstler selbst stammt, sondern erst im Nachhinein vergeben wurde, was meinst du dann zur geschlechtlichen Einordnung der Person?
Aber was ist das überhaupt – Geschlecht? Woran machen wir es fest?
Die meisten Menschen denken bei dem Wort „Geschlecht“ ganz einfach an Frauen und Männer, und nicht darüber hinaus. Mit ein wenig nachgrübeln, lassen sich jedoch ganz unterschiedliche Perspektiven auf den Begriff eröffnen:
Geschlecht kann einerseits aus einem medizinischen Blickwinkel betrachtet werden. Innere und äußere Geschlechtsorgane sowie manchmal auch Chromosomen und Hormone werden von Mediziner*innen nach der Geburt untersucht. Wir bekommen alle einen Stempel aufgedrückt– ohne dabei überhaupt selbst bestimmen zu können. Wie die Person auf dem Bild vor dir.
Der Medizin steht andererseits im späteren Leben eines Menschen eine psychologische, eine soziale und eine sexuelle sowie romantische Perspektive gegenüber. Diese fragt ganz individuell danach:
Wer bin ich? In welchem Körper fühle ich mich zuhause und wohl? Wie möchte ich, dass andere Menschen mich in meinem Körper lesen und wahrnehmen? Mit wem kann ich mir vorstellen in diesem Körper eine romantische oder sexuelle Beziehung einzugehen oder gar gemeinsame Kinder zu bekommen?
Im Gegensatz zu diesen ganz persönlichen Fragen, die wir uns letztlich nur selbst beantworten können, sieht es in zwischenmenschlichen Begegnungen doch häufig ganz anders aus:
Gender – auch das soziale Geschlecht genannt – entsteht in jeder zwischenmenschlichen Begegnung neu. Wer bist du? Wie siehst du aus? Wie und mit welchem Pronomen kann ich dich ansprechen?
Unsere Schubladen geben uns hierbei vermeintlich Sicherheit. Wir bekommen ab unserer Geburt beigebracht, welche Menschen wir, in welche Kategorien einordnen sollen.
Wie viele Haare hast du am Körper und wie lang sind deine Haare? Wie groß bist du? Wie viel Muskelmasse hast du? Wie hoch ist deine Stimme? Wie groß ist deine Brust?
Häufig stellt sich die Frage nach dem „Warum“ gar nicht mehr. Deshalb sorgen Menschen, die auf den ersten Blick in keine Schublade passen, für Verunsicherung bis hin zu großem Frust.
Wenn wir unsere Schubladen jedoch ab und zu hinterfragen und für neue Informationen öffnen, ergibt sich manchmal die Chance eine neue Perspektive hinzuzugewinnen.
Was siehst du also auf dem Bildnis vor dir? Können das offene Haar und die dicken Augenbrauen auch einem jungen Mann gehören? Siehst du einen weiblichen Körper, gehüllt in ein Kleid, in lasziver Haltung? Oder doch eher einen jungen Mann, in kirchlichen Gewändern? Ist die Zigarette und der durchdringende, direkte Blick ein Zeichen von Weltläufigkeit und somit eher mit Männlichkeit verbunden? Vielleicht hat die Person im Bild aber auch ein ganz anderes Geschlecht?
Wir haben die Person nicht gefragt und werden sie niemals fragen können. Wenn du jedoch sensibel hinschauen und ab und zu in deinen eigenen Schubladen herumkramen, herumwühlen und vielleicht das ein oder andere eingestaubte Vorurteil entdeckst, dann hast du in Zukunft die Chance, einen Unterschied zu machen.
Lass dich von Äußerlichkeiten nicht irreführen, frag die Menschen, wie sie von dir angesprochen werden wollen. Vielleicht entdeckst du dabei ja spannende neue Perspektiven und Persönlichkeiten oder lernst gar neue Freund*innen kennen.
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Oskar Zwintscher's painting is titled 'Portrait of a Lady with a Cigarette'. Georg this this title is misleading. Could it not also depict a young man?
'Have you ever thought about the gender others perceive you as? Or the gender you see yourself as? When I look at the portrait titled "Portrait of a Lady with a Cigarette" by Oskar Zwintscher from 1904, these are the first questions that come to my mind.
What do you see in the picture? A young lady? Or perhaps a young gentleman? Are you unsure and struggling to categorize this person in your mind?
What if I told you that even the title of the portrait wasn’t created by the artist but was added later? How does that influence your perception of the person’s gender?
But what is gender anyway? How do we determine it?
Most people think of "gender" simply as male and female, without considering beyond that. With a bit of reflection, however, different perspectives on the concept can emerge:
Gender can be viewed from a medical standpoint: internal and external sex organs, sometimes chromosomes, and hormones are examined by doctors at birth. We are all labeled – without having any say on it. Like the person in the portrait in front of you.
Later in life, a person’s gender is viewed from psychological, social, and sexual or romantic perspectives, asking individually: Who am I? In what body do I feel at home and comfortable? How do I want others to perceive and address me in my body? With whom can I imagine having a romantic or sexual relationship, or even having children?
Unlike these deeply personal questions, which we can only answer ourselves, interpersonal encounters often play out differently: Gender – also called social gender – is redefined in each interaction. Who are you? What do you look like? How and with what pronouns should I address you?
Our mental categories give us a false sense of security. From birth, we are taught to classify people into categories. How much body hair do you have, and how long is your hair? How tall are you? How much muscle mass do you have? How high is your voice? How big is your chest?
Often, we don’t even question the “why” anymore. That’s why people who don’t fit neatly into categories can cause confusion or even frustration. However, if we occasionally question our categories and open them to new information, we might gain a new perspective.
So, what do you see in the portrait before you? Could the loose hair and thick eyebrows belong to a young man? Do you see a female body, draped in a dress, in a seductive pose? Or rather a young man, in ecclesiastical robes? Is the cigarette and the piercing, direct gaze a sign of sophistication and thus more associated with masculinity? Perhaps the person in the portrait has a completely different gender?
We haven’t asked the person and never will. But if you look sensitively and occasionally rummage through your mental categories, you might find some dusty prejudices. This gives you the chance to make a difference in the future. Don’t be misled by appearances; ask people how they want to be addressed. You might discover fascinating new perspectives and personalities or even make new friends.'
Weitere Medien
- Material & Technik
- Öl auf Leinwand
- Museum
- Galerie Neue Meister
- Datierung
- 1904
- Inventarnummer
- Gal.-Nr. 2690