(English translation below)
Der Heilige Sebastian ist nicht nur Heiligenfigur, er ist auch eine queere Ikone. Robin erklärt dir warum:
„Was denkst du, wenn du ein Abbild des heiligen Sebastians betrachtest? Wieder einer dieser Märtyrer – ein Glaubensträger, Hoffnungsspender und Symbol für den Widerstand. Das denkt zumindest die katholische Kirche. Was würdest du nun sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass der heilige Sebastian für die queere Community eine ganz besondere Bedeutung hat – als schwule Ikone. Provokant, aber wahr – auch queeren Menschen spendet der Heilige besonders seit der Aids-Krise in den 80er Jahren Hoffnung und steht genauso für das Durchhaltevermögen in Zeiten und an Orten, an denen Andersartigkeit bestraft wird: mit Ächtung, mit Gefangenschaft, mit Tod.
Sebastians tragische Geschichte endet, wie auch viele queeren Geschichten, damit, dass er durch Hass und Unterdrückung unter Qualen ermordet wurde. Er lebte als römischer Soldat zu Zeiten der Christenverfolgung. Da er sich selbst zu seinem christlichen Glauben bekannte, wurde er zum Tode durch das Beschießen mit Pfeilen verurteilt. Erstaunlicherweise überlebte Sebastian die Strafe zunächst und zeigte somit eine Robustheit, die auch seine Peiniger verblüffte. Als eine zweite Hinrichtung an ihm vollstreckt wurde, verstarb er, doch ging als heiliger Widerstandskämpfer in die Glaubensgeschichte ein.
Warum aber ist Sebastian jetzt schwul, fragst du dich? Zunächst sei klargestellt, dass es keine Überlieferungen zur sexuellen oder geschlechtlichen Identität vom heiligen Sebastian gibt. Das, was aber neben seiner inspirierenden Geschichte dazu beigetragen hat, sind Darstellungen von ihm, besonders aus der Renaissance, in der er als Schutzpatron gegen die Pest verehrt wurde. Von dort kennen wir den klassischen Sebastiantypus – anstelle eines wackeren Soldaten sehen wir eine fast nackte, kräftige, aber anmutige Silhouette. Die Hände an einen Pfahl oder Baum gekettet, langes wallendes Haar und der Blick flehend ekstatisch zum Himmel gerichtet, während sein unberührter, ausdauernder Körper mit einem leichten Hauch von Erotik von Pfeilen durchbohrt wird. So entwickelte sich der Heilige als Überlebender nicht nur als Hoffnungssymbol in dunklen Zeiten der Verfolgung und Unterdrückung von queeren Menschen, welche die AIDS-Pandemie mit sich brachte, sondern wurde auch in homoerotischer Kunst wohlwollend als Objekt der Begierde gesehen und zu einem beliebten Motiv, auch wenn Kirche und Homosexualität in vielen Köpfen immer noch nicht zusammen passen.
Das Sebastians-Abbild von Karl Albiker, welches vor dir steht, hat mit dem klassischen Märtyrer wenig gemeinsam. Wir sehen herab zu einer gebrochenen Figur, die mager in sich zusammen gefallen ist. Von der Stattlichkeit, die ein typischer Sebastian verspricht, ist hier kaum etwas zu merken. Selbst der Baum, an den er gebunden ist, wirkt kläglich und verdorren. Der Kopf schaut weder nach Gott noch nach Lust flehend nach oben, sondern hängt erschöpft herab.
Albikers Sebastian zeigt die noch dunklere Seite des beliebten Motivs und, vermutlich, die uneuphemistischste Wahrheit: Gewalt und Mord. Wer hat gesagt, dass heiliges Leiden immer kraftvoll aussehen muss, um zu inspirieren?
Mit dem Hintergrund als schwule Ikone – einer Interpretation, die sich lange nach Albikers Schaffen geformt hat – steigt auch der Identifikationswert mit einem Menschen, der seinen Gebrechen erlegen ist. In einer Welt, die die Identität eines Individuums hinterfragt, ausgrenzt oder bestraft, fühlen wir queere Menschen uns auch oft so, als wären uns die Hände gebunden. Strukturelle Ausgrenzung, wie der Kampf um legale Gleichstellung oder die Konfrontation von Menschen, die uns aus ihrer Gesellschaft ausschließen, wirkt manchmal aussichtslos und ermüdend auf uns.
Aber gerade das macht diesen Sebastian aus Eichenholz so nahbar – wir ziehen Stärke und Hoffnung aus seinen schwächsten Momenten, weil wir wissen, dass er weiter atmet und aufstehen wird.
Für mich lebt die Metapher des ewigen Kampfes durch die vor uns kauernde Darstellung von Verletzlichkeit somit noch eindeutiger auf. Es ist wichtig, unsere Helden auch durch ihre tragischsten Zeiten zu begleiten.
Wenn du unserem Märtyrer das nächste Mal begegnest, an was wirst du dann denken? An Provokation? An Ungerechtigkeit? An eine tragische Geschichte? An Erregung? An Hoffnung? Oder empfindest du vielleicht ein bisschen Stolz?"
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Saint Sebastian is not just a figure of sainthood; he is also a queer icon. Robin explains to you why.
'What do you think when you look at an image of Saint Sebastian? Another martyr— a bearer of faith, a symbol of hope, and resistance. At least that's what the Catholic Church believes. But what if I told you that Saint Sebastian holds a special significance for the queer community—as a gay icon? Provocative, but true—especially since the AIDS crisis of the 1980s, Saint Sebastian has offered hope to queer people and stands for perseverance in times and places where being different is punished with ostracism, imprisonment, and death.
Sebastian’s tragic story ends, like many queer stories, with him being tortured and murdered out of hatred and oppression. He lived as a Roman soldier during the Christian persecutions. Because he professed his Christian faith, he was sentenced to death by being shot with arrows. Remarkably, Sebastian initially survived the punishment, displaying a resilience that even astonished his tormentors. When a second execution was carried out, he died, but he entered the history of faith as a holy warrior.
But why is Sebastian considered gay, you might ask? First, it should be clear that there are no historical accounts of Saint Sebastian's sexual or gender identity. However, what has contributed to this interpretation are representations of him, particularly from the Renaissance, when he was venerated as the patron saint against the plague. From there, we know the classical Sebastian type—rather than a valiant soldier, we see an almost naked, muscular yet graceful figure. Hands chained to a post or tree, long flowing hair, and a gaze pleadingly and ecstatically directed toward the sky, while his untouched, enduring body is pierced by arrows with a hint of eroticism. Thus, the saint became not only a symbol of hope in dark times of persecution and the oppression of queer people brought by the AIDS pandemic but was also seen in homoerotic art as an object of desire and a popular motif, even though the church and homosexuality still do not seem to fit together in many minds.
Karl Albiker's depiction of Sebastian, which stands before you, has little in common with the classic martyr. We see a broken figure, emaciated and collapsed. There’s hardly any trace of the grandeur typically promised by Sebastian. Even the tree to which he is bound looks pitiful and withered. His head does not look up in prayer or desire but hangs exhausted.
Albiker's Sebastian reveals the darker side of the popular motif and, presumably, the least euphemistic truth: violence and murder. Who said that holy suffering must always appear powerful to be inspiring? With the background of being a gay icon—an interpretation that formed long after Albiker’s time—the identification with a person who has succumbed to their afflictions is heightened. In a world that questions, excludes, or punishes an individual's identity, we queer people often feel as if our hands are tied. Structural exclusion, such as the struggle for legal equality or the confrontation with those who ostracize us from their societies, can sometimes feel hopeless and exhausting.
But that’s what makes this oak-wood Sebastian so relatable—we draw strength and hope from his moments of weakness because we know he continues to breathe and will rise again. To me, the metaphor of eternal struggle is even more vividly portrayed through this depiction of vulnerability. It is important to accompany our heroes through their most tragic times.
When you next encounter our martyr, what will you think of? Provocation? Injustice? A tragic story? Excitement? Hope? Or perhaps a bit of pride?'
Weitere Medien
- Material & Technik
- Eichenholz
- Museum
- Skulpturensammlung
- Ort & Datierung
- 1920-1926
- Inventarnummer
- ZV 3035