Kind 1: Warum werden hier denn Fotos von ganz normalen Familien aufbewahrt? Wir sind doch im Schloss der Wettiner, wie Herr Winzeler erzählt hat. Da werden doch sonst nur Gemälde gezeigt. Oder ganz besondere Schätze und Sammlungsstücke?
Stephanie Buck: Das ist eine gute Frage! Ihr müsst euch vorstellen, dass bereits im 16. Jahrhundert die sächsischen Herrscher sogenannte „Kunst auf Papier“ zu sammeln begannen. So auch August der Starke. 1720 richtete er sein Kabinett ein, also vor über 300 Jahren. Heute ist es das älteste Spezialmuseum für Kunst auf Papier und umfasst mehr als 500.000 Sammlungsstücke. Später wurde auch eine Abteilung für Fotografien eingerichtet. Sie gehören ja auch zu den Papierkunstwerken. Und was daran künstlerisch ist, können wir anhand dieser Familienfotos einmal gemeinsam ergründen.
Kind 1: Sieht tatsächlich wie ein einfaches Familienfoto aus. Ist das denn Kunst?
Stephanie Buck: Tja, was meint ihr denn?
Kind 2: Naja, es sieht eher normal aus. Aber wenn das Foto hier aufbewahrt wird, hat es sicher einen Grund.
Marie: Wer hat denn das Foto gemacht?
Stephanie Buck: Der Fotograf heißt Christian Borchert. Er hat sich sehr für seine Zeit interessiert und für Menschen. Ähnlich wie Adolph Menzel, der den Jungen mit den Locken gezeichnet hat. Nur, dass Borchert eben Fotograf war und kein Maler. Erst fotografierte er bekannte Künstler und Künstlerinnen, später dann auch keine berühmten Menschen, wie diese Familie hier.
Kind 4: Von wann sind denn die Fotos?
Stephanie Buck: Also, mit den Familienfotos fing Borchert 1983 an. Fällt euch noch etwas auf?
Kind 3: Ist das nicht immer dieselbe Familie, aber im Abstand von mehreren Jahren? Die Menschen haben sich verändert, aber die Einrichtung sieht sehr ähnlich aus. Das Regal mit den ganzen Büchern ist doch das gleiche, oder? Heißt so etwas nicht Dokumentation?
Stephanie Buck: Ja, da bist du auf einer guten Spur. Die Familienfotos von Christian Borchert sind Dokumentarfotografien. Sie zeigen, wie die Mitglieder einer Familie oder die Einrichtung ihres Wohnzimmers in einem ganz bestimmten Moment ausgesehen haben.
Marie: Ah, ich verstehe, hier wird jetzt was dokumentiert – aber ist das wirklich Kunst?
Stephanie Buck: Ja, ist es. Versteht ihr, Borchert hat nicht einfach nur eine Familie fotografiert. 1983 besuchte er 130 Familien in vielen Städten seiner Heimat, der DDR. Ihr wisst es vielleicht, aber zwischen 1949 und 1990 war Deutschland geteilt in die BRD und die DDR. In der DDR waren die Menschen nicht so frei. Freie Wahlen und Meinungsfreiheit, wie ihr es heute kennt, gab es nicht. Nahezu alle Bereiche wurden kontrolliert. Die Fotos von Borchert zeigen, dass die Menschen in der DDR trotzdem ganz verschieden waren. Wir sehen also nicht nur die Menschen, sondern auch, wie sie wohnten - eine Art Querschnitt durch die damalige Gesellschaft. Und damit ist es mehr als nur ein Familienfoto.
Marie: Aha. Wir lernen also mehr von der damaligen Zeit und er zeigt uns zudem, was ihn interessiert hat.
Stephanie Buck: Ja, das hat er mit vielen modernen Künstlerinnen und Künstlern gemeinsam: Christian Borchert wollte nichts beschönigen, sondern zeigen, wie das Leben wirklich war. Deshalb hat er einige Familien sogar Jahre später noch einmal besucht und fotografiert. Spannend war zu sehen, was gleichgeblieben ist und was sich verändert hat: Kam zum Beispiel ein Geschwisterkind hinzu, oder ist die alte Vase auf dem Tisch noch dieselbe. So kann ein Familienfoto eine tolle Geschichte erzählen und gleichzeitig zur großen Kunst werden. Deshalb sammeln wir diese Fotos.
- Ort & Datierung
- 1978
- Material & Technik
- Silbergelatinepapier
- Abmessungen
- 189 x 285 mm (Darstellung); 203 x 299 mm (Foto)
- Museum
- Kupferstich-Kabinett
- Inventarnummer
- D 2001-670